Die „nackten“ Londoner

 
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Auch hier macht sich immer mehr die vierte Jahreszeit in London bemerkbar und man spürt mehr und mehr, dass es winterlich wird. Es kommt die Jahreszeit, wo ich ganz genau merke, dass ich noch keine typische Londonerin bin. Wieder einmal!

Ich habe ja schon oft gehört, dass die Engländer sich gerne freizügiger kleiden und jeden Modestil miteinander mischen, aber dies ist meiner Meinung nach definitiv etwas untertrieben. Nach mehr als einem Jahr nun in London, kann ich sagen, dass die Engländer die bunte und verrückte Modewelt lieben und leben und dies in allen Fassetten. Ich möchte hier auf keinen Fall alle Londoner über einen Kamm scheren, es gibt durchaus sehr viele gutangezogene Engländer mit Stil, Eleganz und Modeverstand, aber ich spreche hier über die extravaganten Londoner. Ich spreche über die „nackten“ Londoner in meinem kommenden zweiten Winter in London.

Die Londoner Mädchen und Frauen tragen gerne weniger und zeigen gerne viel Haut. Was ganz groß hier angesagt ist, ist der Schlitz á la Angelina Jolie auf dem roten Teppich. Umso luftiger, umso besser, heißt:

Das kurze Kleid braucht ganz dringen noch einen Schlitz, sodass man auch ja das schlanke Bein sehen kann.

Das enge Kleid braucht auf der Höhe der Rippen rechts und links einen Schlitz, damit es glamouröser aussieht. 

Das leichte Kleid braucht einen weiteren Schlitz am Ausschnitt, damit es auch ja nicht zu hochgeschlossen wirkt.

Was man hat oder auch nicht, wird gezeigt und das Motto: Weniger ist mehr wird hier sehr ernst genommen, aber mit einer anderen Definition. Ein BH wird völlig überbewertet, ein T-Shirt über den Bauch ist viel zu lang und ein Rock in der richtigen Größe wäre ja völliger Quatsch und falls dann doch die ein oder andere einem begegnet mit mehr Stoff am Körper, dann aber bitte so richtig und ja nicht langweilig. Streifen mit Punkten und Tiermuster, Glitzer mit Perlen und Sternchen, Neonfarben mit Leder und Seidenstoff. Alles was man besitzt kann man hier kombinieren und anziehen. Auffallen ist kein geplantes Ziel, aber es passiert dann doch automatisch bei all den kreativen Zusammenstellungen. An die klassische und strenge Knigge ist hier oft gar nicht zudenken. Bin ich etwa zu spießig oder langweilig oder doch zu klassisch für die Londoner Welt?

Während ich immer dem Gesetz gefolgt bin nicht zu viel Haut zu zeigen, also zeige entweder Beine oder Dekolleté niemals beides, bloß keine nackten Zehen im Büro zeigen und der Rock sollte auch noch eine Länge haben, sodass ich mich beruhigt bücken kann, zeigen die Londoner umso mehr und genau das Gegenteil von Knigge. Badeanzug kombiniert mit einer Hot Pants? Kein Problem. Netzhose mit einem String Unterhöschen darunter? Passt perfekt. Auch ist der hübsche Spitzen-BH mit verspielten Riemchen und Glitzersteinchen ein beliebtes Oberteil.

Mein erster Winter in London war tatsächlich nicht so kalt wie ich dachte, mal sehen wie es dieses Jahr sein wird, aber im letzten Winter war das Wetter sehr mild und hatte viele Sonnenstunden. Oft habe ich meine Mittagspausen draußen bei einer herrlichen frischen Luft mit warmen Sonnenstrahlen verbracht. Das Klischee, dass es in London immer regnet, kann ich momentan noch nicht nachvollziehen und auch nicht bestätigen. Es war bislang viel zu warm für meine Winterjacke, welche ich in Deutschland sonst immer getragen habe und die Winterschuhe brauchte ich definitiv hier auch nicht. Aufgrund dieser Erfahrung habe ich mich dieses Jahr zu einer dünneren Daunenjacke und einem hübschen, klassischen Wollmantel entschieden. Klassisch, elegant und zu jedem Anlass passend gekleidet. Aber egal wie sehr ich mich bemühe weniger oder dünnere Winterkleidung anzuziehen, habe ich immer mehr an als alle anderen. Mit meinem T-Shirt, Wollpullover, Strumpfhose, Schal und Mantel könnte eine ganze Familie an einem Wintertag ausgestattet werden. Oft stelle ich mir die Frage, wieso die Londoner so gerne wenig anziehen und wie es sein kann, dass sie so viel weniger kälteempfindlich sind als ich? Ich muss feststellen, dass die Londoner zum einen mit der Kälteunempfindlichkeit geboren werden und zum anderen sehr pragmatisch sind. Der schwangeren Mutti ist immer warm und diese Hitze gibt sie bereits hier weiter, das neugeborene Kind trägt nur ein Baby-Body und wird mit einer leichten Decke zugedeckt, die Schulmädchen tragen kurze Röcke ohne Strumpfhosen oder Kniestrümpfe als Uniform und die Jugendlichen tragen eh nur kurz und sexy. Die Londoner werden mit der Wärme geboren und sehen das Ganze mit dem An- und Ausziehen viel einfacher und unkomplizierter als wir. Umso positiver man darüber denkt, umso unkompliziert sieht man es, umso weniger negativer Gedanken umso weniger erkältet sind die „nackten“ Mädels.

Wozu soll ich einen Mantel oder eine Jacke mitnehmen, wenn ich diese ständig an und ausziehen muss? Das kurze Stück bis zur Underground oder zum Bus kann man in einem schnellen Tempo laufen, sodass es einem warm bleibt, wobei wenn wir ehrlich sind fahren die Londoner eh mehr mit Taxi oder Uber, als öffentlich. In der Underground wird es viel zu warm für eine Jacke, für die kurze Strecke mit dem Taxi braucht man keinen Mantel und am Abend im Restaurant oder Club ist der Mantel nur lästig. Schließlich soll auch jeder sehen was ich Tolles anhabe, wenn ich mich schon ausgehbereit angezogen habe, oder?  Wie hat Coco Chanel schon damals gesagt: „In ihrem schönsten Kleid wird es keiner Frau zu kalt.“ Erblickt man dann doch jemanden mit einer Daunenjacke, sollte man sich nicht zu früh freuen, dass man nicht der einzige eingepackte Eskimo ist, denn dann erblickt man bei näherem Hinschauen, dass die Jacke mit Sandalen oder Flip-Flops kombiniert wurde. Tja, ich sag ja, jedes Jäckchen, jede Strumpfhose oder warme Accessoire ist hier nur lästig. Doch praktisch oder lästig, ohne oder mit einem Hauch von nichts, umso weniger und verrückter umso ehrlicher ist die Stadt und die Leute. Die Londoner leben wie sie leben wollen und tragen worauf sie Lust haben. Sie sind einzigartig und positiv. Sie machen sich auf eine besondere Art und Weise weniger Gedanken und Stress. Sie drücken mit Kleidung das aus, wie sie sich an dem Tag fühlen, auch wenn sie meiner Meinung nach in der Kälte nichts mehr fühlen dürften.

Danke Londoner folks, es ist schön bei euch zu sein, aber nicht wundern, wenn ich bei meinem Winter-Wollmantel bleibe.

 
 
Olivia MalchowKommentieren